3-Geländekammern im Blickfeld
Vor unseren Augen spielen sich gerade die fatalen Folgen von jahrelangem Führungsversagen ab. Die Opfer sind insbesondere eine stolze Schweizer Grossbank und ihre Angestellten, der Bankenplatz Schweiz, die Schweizer Rechtssicherheit des Eigentums sowie das Vertrauen in den Markt und die Demokratie. Wir müssen die Frage neu erörtern: Wie findet und bindet man die geeigneten Führungskräfte für die Leitung nachhaltig erfolgreicher Geschäfte von internationaler Tragweite?
Schönwetterkapitäne haben ausgedient
Einen Segeltörn in die Ägäis starteten wir am ersten Tag mit einem Meltemi-Sturm der Windstärke sieben bis acht. Der Skipper wurde seekrank und wollte das niemandem eingestehen. Er sei schliesslich verantwortlich und müsse führen. Es war ein weiterer Skipper in der Crew, und als zwei erfahrene Segler taten wir das Ungeheuerliche: Wir meuterten und übernahmen die Verantwortung an Bord. Um das Schiff und die ganze Mannschaft sicher zur nächsten Insel zu bringen, mussten wir den ersten Skipper übersteuern. Wir zwangen ihn, die ganze Sicherheitsausrüstung zu tragen, inklusive den Rettungsgurt. Ein seekranker Mensch geht nämlich auf offener See allzu leicht freiwillig über Bord, um sich von seinem Übel zu befreien. Die Hälfte der Mannschaft war in einem elenden Zustand. Wir mussten also hart durchgreifen, um die anspruchsvolle Situation mit reduzierter Kapazität zu meistern und Risiken zu vermeiden.
Das war der erste Vertrauensbruch. Der zweite folgte wenige Tage später. Ein Schaden am Grosssegel liess den Baum mit einem lauten Knall einen halben Meter runterfallen. Dieser schwankte ohne Winddruck unkontrolliert hin und her. Wir mussten in Deckung gehen. Auf einem Schiff ist vieles doppelt gesichert, so auch der Baum. Nachdem wir das Schiff in den Wind gedreht hatten, gab unser erster Skipper den Befehl, die Sicherung zu kappen. Wir beiden Meuterer sahen uns an und riefen “STOPP!” und verhinderten so weiteren Schaden.
Es war mein schlimmster Segeltörn, denn unser Vertrauen in den Skipper war erschüttert. Unsere Meuterei und die Uneinsichtigkeit des Skippers über das Geschehene hatte die Mannschaft in zwei Lager gespalten. Alle waren verunsichert. Segeln war nur noch unter grosser Anspannung und ständiger Wachsamkeit möglich.
Das Seemannsgarn an Land angewandt
Gehen wir mit dieser Geschichte im Kopf an Land und in die Wirtschaft, dann sehen wir auch da: Schönwetterkapitäne die früher mit Rückenwind und Plattitüden gut vorwärts kamen, haben inzwischen ausgedient. Es ist stürmisches Wirtschaftswetter aufgezogen. Jetzt braucht es krisenfeste, souveräne Führung.
Um die Strategie und Taktik der Unternehmensführung unter angespannten Bedingungen durch zu deklinieren, eignet sich insbesondere das 3-Horizonte-Modell von McKinsey. Wir benutzen das Bild der Geländekammern anstelle von Horizonten, um im Folgenden anhand aktueller Geschehnisse das Modell als Fingerübung durchzuspielen.
Die erste Geländekammer: das Tagesgeschäft profitabel führen und optimieren.
Diese erste Geländekammer ist im Management am geläufigsten. Es geht darum, das bestehende Geschäftsmodell stetig zu optimieren und profitabel zu erhalten. Das steuert man mit den gängigen Werkzeugen der operativen Führung: den Schlüsselkennzahlen zum Verkauf, den Preisen, den Margen, Einkaufspreisen, Produktivitätsdaten wie Umsatz pro Kopf und Lohnfranken, Bruttorendite, EBITDA und EBIT, Zielen und Zielerreichung und vielen anderen mehr. Für börsenkotierte Unternehmen kommt der aktuelle Börsenwert als wichtiges Marktfeedback und Leitinformation hinzu. Aber auch privat gehaltene Unternehmen überwachen ihre Bilanzkennzahlen, die Auskunft über die Gesundheit des Unternehmens geben.
Manche Unternehmen ergänzen die «Hard Facts» der Unternehmensführung mit «Soft Facts», um die Firmenkultur im Auge zu behalten, denn diese ist ein Frühwarnsystem für die Profitabilität des Geschäftes: die Kundenzufriedenheit, Qualitätskennzahlen aus Produktion und Dienstleistung, die Zufriedenheit der Mitarbeitenden, Fluktuation und Krankheitstage. Weitere Unternehmen beobachten zudem ihre Reputation im Markt und in der Gesellschaft, um ein Gespür dafür zu erhalten, wie (noch) Nicht-Kunden über die Firma denken. Das ist die Brücke in die zweite Geländekammer.
Risiken innerhalb des ersten Horizontes
Selbst wenn man in der ersten Geländekammer vermeintlich alles richtig macht, kann eine Firma in Schieflage geraten. Denn sie wirtschaftet in einem Umfeld, das sich früher oder später mehr oder weniger verändert. Diese Entwicklungen mit erweitertem Horizont im Auge zu behalten und die strategisch und taktisch klugen Schlüsse daraus zu ziehen, ist eine der zentralen Aufgaben von Verwaltungsräten und Geschäftsleitungen. Dabei ist das Timing ein zentraler Erfolgsfaktor. Die ersten, die Veränderungen auf den Markt bringen, sind nämlich oft nicht die betriebswirtschaftlich profitabelsten, ausser man kann als Disruptor sogenannte «First Mover Advantages» ernten. Das geschieht dann, wenn die Firma die Spielregeln des Marktes derart verändert, dass die Karten ganz neu gemischt werden müssen. So etwas hätte seinen Ursprung in der dritten Geländekammer.
Es sind jedoch hauptsächlich die «Early Followers», die die grössten Innovationserfolge erzielen: Das sind Neuerungen, die sich am Markt erfolgreich und profitabel etablieren.
Die Credit Suisse in der ersten Geländekammer
Ehre, wem Ehre gebührt: die allermeisten Mitarbeitenden haben hervorragende Arbeit im Tagesgeschäft der Bank geleistet. Trotzdem muss sich die Credit Suisse der Frage stellen: Was lief in der ersten Geländekammer schief? Offensichtlich war einiges aus dem Lot geraten und das schon seit Langem. Die Geschäftskennzahlen sind öffentlich und sprechen für sich. Verluste, fortlaufende Vernichtung von Börsenwert, immer wieder Bussen für Fehlverhalten, personelle Skandale, Vergütungsexzesse und schliesslich der Abfluss von Kundengeldern. Die Firmenkommunikation dazu war vermutlich Ausdruck eines ungenügenden Realitätsbewusstseins und der Unfähigkeit, die richtigen Massnahmen zu ergreifen, um die auf der Hand liegenden Probleme effektiv zu lösen. Im Gelände vor dem ersten Horizont muss die Credit Suisse ein jahrelanges, von unterschiedlichsten Managern wiederholt auftretendes und auch kollektives Führungsversagen eingestehen und zwar sowohl im Verwaltungsrat wie auch in der Geschäftsleitung. Das Zusammenspiel der jeweiligen Teams sowie die Eigenverantwortlichkeit der Individuen haben über längere Zeit ungenügend funktioniert.
Die zweite Geländekammer: Marktentwicklungen antizipieren.
In der zweiten Geländekammer liegen die Chancen für Innovationen und Erweiterungen des Geschäftsmodelles. Entwicklungen in der Regulierung, den Technologien, Ressourcen, Marktbedürfnisse etc. eröffnen immer wieder weisse Flächen in den Märkten. Diese werden von Firmen geschickt mit neuartigen Angeboten gefüllt oder können auf eine neue Art bedient werden und können so einen Quantensprung in der Qualität, dem Preis oder Komfort auslösen. Da tun sich jeweils die sogenannten «Blue Oceans» auf.
Die zweite Geländekammer: Marktentwicklungen antizipieren.
Wenn Führungskräfte in Verwaltungsräten und Geschäftsleitungen in der Geländekammer innerhalb des zweiten Horizontes zwar alles richtig antizipieren, aber es nicht schaffen, ihre Erkenntnisse im Betrieb in der ersten Geländekammer zu operationalisieren, dann scheitern sie. Es ist die grosse Kunst der guten Führung, die Übersetzungsarbeit zwischen den beiden Horizonten zu leisten und die dynamische Balance zwischen Profitabilität und Erneuerung geschickt zu halten. Hier kommt dem Verwaltungsrat eine besondere Verantwortung zu. Dieser muss dafür sorgen, dass die operative Leitung die Rahmenbedingungen erhält und die Möglichkeiten ausschöpft, um in beiden Geländekammern gleichzeitig und wohldosiert wirksam zu sein. Neben der operativen Hektik, welche die Innovation erstickt, gibt es auch das Risiko der innovativen Hektik, die den operativen Betrieb in die roten Zahlen treibt. Dazwischen liegt die Gratwanderung zum Erfolg.
Ein weiteres Risiko ist ein mangelhafter Realitätsbezug. Wer hätte vor Kurzem geglaubt, dass das Zinsniveau jetzt wieder deutlich ansteigt? Wer schätzt die Chancen, Möglichkeiten und Gefahren von AI, Kryptowährungen und Blockchain geschickt ein? Wer geht klug mit Propaganda, Fake News, Deepfake sowie den neuen Medien und viralen Dynamiken um? Wer setzt auf die richtigen Karten in Sachen Energie und Ressourcen? Wer antizipiert den demografischen Wandel umsichtig? Wer kann vorausschauend die Folgen von Russlands Krieg gegen die Ukraine in Marktfolgen übersetzen? Innerhalb des zweiten Horizontes passieren Fälle wie z.B. Kodak, die in der dritten Geländekammer die ersten in der Digitalfotografie waren, aber schliesslich als Verlierer aus der Marktverschiebung hervorgingen.
Die Credit Suisse in der zweiten Geländekammer
Greensill, Archegos, Mossambik und Geldwäscherei sind Stichworte, die zum Scheitern der Credit Suisse innerhalb des zweiten Horizontes fallen. An der Oberfläche ist noch nicht sichtbar, inwiefern die Bank daraus gelernt hat und sich in der zweiten Geländekammer inzwischen sorgfältig und geschickt bewegt. Es macht vor allem den Anschein, dass sie die virale Wucht des Vertrauensverlustes zu spät erkannte und damit zudem kommunikativ wirklich schlecht umging. Ob die Credit Suisse in ihren Büchern weitere Risiken hat, die sie in der zweiten Geländekammer besser hätte bewirtschaften müssen, wird sich noch zeigen. Banken sind zum Beispiel für Risiken anfällig, die mit den ansteigenden Zinsen eintreten, wie wir jüngst bei der Silicon Valley Bank beobachten konnten. Zudem wurden in den USA in den vergangenen Jahren wieder verstärkt strukturierte Produkte auf Basis von Immobiliensicherheiten entwickelt. Diese basieren auf Geschäftsliegenschaften, deren Buchwertezerfall ähnlich wie 2006-2008 in der Subprime-Krise bei Privatliegenschaften, aufgrund von strukturellen Marktveränderungen die Finanzprodukte zum Kippen bringen könnten.
Die dritte Geländekammer: Szenarien für mögliche Umschwünge in der Grosswetterlage bilden.
Der Gestaltungsspielraum innerhalb des dritten Horizontes ist am schwierigsten zu beschreiben, denn dabei geht es um das Triagieren und Kuratieren von Chancen und Risiken, die sich aus grossen Verwerfungen, Erfindungen und Zufällen ergeben. In der dritten Geländekammer wird das globale Geschehen beobachtet und Szenarien für die zukünftige Relevanz gebildet. Hier wird entschieden, was in die zweite Geländekammer transferiert und was vorher schon verworfen wird. Zum Beispiel wird und wurde der 3D-Druck in vielen Unternehmen in dieser dritten Geländekammer im Spiel gehalten. In den Forschungslaboren wird damit experimentiert, um das Anwendungswissen weiterzuentwickeln. Sobald die Technik und die Materialien reif genug für eine Branche sind, wird das Thema in die zweite Geländekammer überführt, um dort am Geschäftsmodell mit dezentraler Produktion, IP der digitalen Konstruktionspläne, der Materiallogistik etc. zu feilen.
«Culture eats Strategy for Breakfast”
– Peter Drucker, legendary management consultant and writer
Der Mensch als blinder Fleck
Was in der aktuellen Debatte um das eklatante Führungsversagen in der Credit Suisse bisher nicht thematisiert wurde, ist die Rolle der Menschen und genauer der Personalentscheide. Irgendwie wurden diese Persönlichkeiten für ihre Rollen in Verwaltungsrat und Geschäftsleitung ja ausgewählt. Über Jahre hat man im Banking die Überzeugung gepflegt, die Besten seien am Werk und hat die hohen Vergütungen gerechtfertigt, um diese zu finden und zu binden. Reto Lipp sagte dazu sinngemäss und öffentlichkeitswirksam: Wenn die angeblich Besten diese Bank derart an die Wand fahren konnten, dann wolle er nicht wissen, welche Katastrophe mit den Zweitbesten passiert wäre. Das ist in unseren Augen der falsche Ansatz.
Die Gretchenfrage lautet nämlich: Waren das wirklich die Besten? Oder hätte es Geeignetere gegeben? Und falls ja, warum waren sie nicht am Ruder?
«Wer erweist sich als vertrauenswürdig»
Vermutlich waren die Verantwortlichen bei der Credit Suisse tatsächlich die Besten gemäss den Kriterien, die man angewandt hatte. Doch das wiederum wirft die Frage auf, ob die angewandten Kriterien tatsächlich zu nachhaltigen und belastbaren Personalentscheiden führen. Die jüngste Geschichte lehrt uns, dass die Thematik guter Personalentscheide neu erörtert werden muss.
Wie werden Profile für Vakanzen gebildet? Wer recherchiert die Longlisten und trifft eine erste Auswahl in Frage kommender Personen intern oder extern? Wer verdichtet diese auf eine Shortliste? Aufgrund welcher Informationen und Interaktionen geschieht dies und nach welchen Kriterien? Wie werden Interviews und Assessments geführt und welche Schwerpunkte werden da abgeklärt? Wie kommen Anstellungs- und Beförderungsentscheide zustande? Wie funktioniert Eignungsbeurteilung? Welche Rolle spielen die Personalabteilung und der Nominationsausschuss dabei? Und welchen Einfluss haben eigentlich Executive Search Unternehmen bei der Auswahl des Top Führungskaders?
Und wenn das Ego too big to fail ist?
Nach dem Fall der Credit Suisse bemühen sich die ehemaligen und aktuellen Führungskräfte, jede Schuld und Verantwortung von sich weg zu weisen. Sich selbst Fehler und Scheitern einzugestehen, erfordert persönliche Reife. Sich Fehler und Scheitern in einem Team gegenseitig eingestehen zu können, braucht zudem eine Kultur der psychologischen Sicherheit, die es erlaubt, aus Fehlern zu lernen. In der Öffentlichkeit den Problemen ehrlich in die Augen zu sehen, dazu braucht es eine Integrität und ein Ehrgefühl, das der grösseren Sache – also der Firma und ihrem Wirken – mehr verpflichtet ist als dem eigenen Ego. Es ist egal, in welchen strategischen Horizonten man navigiert. Egos, die too big to fail sind, sind in jeder Geländekammer ein existenzielles Risiko.
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