Das falsche Ziel erreichen

Politik

Ziele setzen – so wichtig. Wir sollten uns dabei immer auch überlegen, was die Wirkungen und Nebenwirkungen der Zielerreichung sind, wie wir die Einhaltung des Zielkorridors auf dem Weg messen und ob die der Mitteleinsatz zur Zielerreichung verhältnismässig ist. Das Entscheidende ist jedoch: ist das Ziel eigentlich das richtige Ziel?

Ein aktuelles Anwendungsbeispiel bereitet mir seit längerem schlaflose Nächte. Ja, es geht wieder mal um den Umgang mit der Krise. Ein Satz hat die folgenden Gedanken angestossen: «In der Notfallmedizin ist ein hoher Verdachtsgrad für eine Diagnose die beste Orientierungshilfe für lebensrettendes Handeln, bevor die Evidenz aus den Laboren und der Bildgebung vorliegt.» Das sagte jüngst eine Freundin und fragte in die Runde, warum wir in der Schweiz die Pandemie nicht wie Notfallmedizin managen. Die Frage ist gut und hat bei mir diese Überlegungen zu Zielsetzung und Verhältnismässigkeit ausgelöst. 


Es wird seit Monaten viel über Wissenschaft und Evidenz debattiert und nach belastbaren Beweisen gesucht, welche Schutz-Massnahmen tatsächlich wirksam und verhältnismässig sind. Spitzfindige «Tüpflischysser» (= ugspr. überhöht für Perfektionist:innen) pochen auf Kausalitätsbeweise. Beobachten, Auswerten und Validieren wird als einzige Option für wissenschaftliches Vorgehen missverstanden. Das ist Krisenmanagement im Rückspiegel und bringt «die Wissenschaft» mit ihrer auch vorausschauenden Methodenvielfalt in Verruf. 


Wissenschaftskompetenz bedeutet nämlich in bedrohlichen Situationen wie der Notfallmedizin und in Krisen auch, dass man mit den aktuell verfügbaren unvollständigen Informationen optimierend handelt, um weiteren Schaden abzuwenden. Nach bestem Wissen und Gewissen. 


Vorausschauendes Handeln auf Basis der jeweils aktuellen Evidenz ist auch aus Sicht der Wissenschaft der Königsweg, um eine Krise gut zu bewältigen. Das wäre im Militär für den Kriegs- und Katastrophenfall nicht anders. 


In Österreich können wir derzeit sehen, wo die Schweiz etwa in zwei Wochen stehen wird. Es ist international längst erwiesen, dass Boostern bereits vier Monate nach der letzten Impfung wirkt, dass FFP2-Masken in Innenräumen wirken, dass Luftfilter wirken, dass Homeoffice-Pflicht und andere Kontaktbeschränkungen wirken, dass Testen und Quarantänen u.v.a.m. wirken. Um handeln zu können, braucht jetzt niemand mehr Beweise, die die Kausalität der Wirkung spezifisch für die Schweiz und an der zweiten Stelle hinter dem Komma belegen. Solche zermürbenden Mikromanagement-Beschäftigungstherapien kosten unnötig Zeit, Geld und Menschenleben. 


Warum hierzulande trotzdem immer wieder abgewartet und beobachtet wird, bis die sich offensichtlich anbahnende Notsituation unkontrollierbar geworden ist, obschon man bereits heute oder gestern das Absehbare vermeiden oder wenigstens lindern könnte, ist und bleibt mir ein Rätsel, das mir nachts den Schlaf raubt. Die Politik hat eigentlich die verfassungsmässige Verantwortung Vorsicht anzuwenden, um unnötigen Schaden zu vermeiden. Ich sehe nicht ein, warum die Schweiz ein weiteres mal Opfer des Präventions-Paradoxons werden soll. Natürlich werden wieder Zweifler und Nörgler auftauchen, die strengere Schutz-Massnahmen als unverhältnismässig darstellen. Sie benutzen dieses Wort gezielt, weil die Politik auch verpflichtet ist, verhältnismässige Mittel einzusetzen, die andere Grundrechte nicht unnötig einschränken. Deshalb folgender Gedanke zur Verhältnismässigkeitsabwägung: 


Seit dem Anfang der Pandemie ist es das politische Ziel, die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Das ist das Schweizer Mantra der Pandemie. 


Ist das eigentlich das richtige Ziel? 


Der Frage müssen wir uns stellen, denn an dieser Zielsetzung wird der Verfassungsauftrag der Verhältnismässigkeit von Schutz-Massnahmen gemessen. Wer die Verhältnismässigkeit seines Handelns an einem noch funktionierenden Gesundheitssystem ausrichtet, ist blind für die Risiken und das Leid, das nicht in einer «Hospitalisierungsrate» sowie «Bettenverfügbarkeit auf Intensivstation» gemessen wird. Und genau da liegt das Problem. Schutz-Massnahmen, die nicht dem Ziel dienen, können ohne Not als unverhältnismässig gegenüber der Einschränkung anderer Grundrechte dargestellt werden. 


Es ist längst offensichtlich, dass selbst milde Covid-Infektionen mit erheblichem Risiko langfristige Schäden an Menschen verursachen können – auch an solchen unter 12 Jahren. Das tatsächliche Risiko eines milden Verlaufs ist weniger die akute Krankheit, sondern die Spätfolgen und Kollateralschäden der Infektion. Auch leiden 70% aller Covid-Patient:innen, die Spitalpflege benötigten, noch Monate später an gesundheitlichen Einschränkungen. In der Statistik werden sie als «Genesen» geführt, aber viele sind nicht mehr so leistungsfähig wie vorher, manche sind gar monatelang arbeitsunfähig. Diese Folgen werden bei der Verhältnismässigkeitsabwägung nicht berücksichtigt, da sie ausserhalb des gesteckten politischen Zielkorridors liegen. 


LongCovid wird nicht in den Schlüsselkennzahlen abgebildet. 


Natürlich hätte unsere Politik den Verfassungsauftrag, im Pandemie-Krisenfall die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Wenn diese aber ausschliesslich an den Eingangs- und Ausgangstüren von Spitälern gemessen wird, dann ist unsere Politik und mit ihr die öffentliche Debatte blind für alles, was ausserhalb der Krankenhäuser passiert. Das können wir gut an der Diskussion über die Notwendigkeit zum Schutz der Kinder unter 12 Jahren beobachten. Das Hospitalisierungs- und Todesrisiko für infizierte Kinder erscheint den Verantwortlichen zu gering, um Schutz-Massnahmen wie Maskenpflicht bzw. eine Impfempfehlung als verhältnismässig rechtfertigen zu können. Dabei werden das LongCovid-Risiko, die psychische Belastung und Angst vor der Ansteckung, das Weiterverbreitungsrisiko an Erwachsene, die Folgen einer möglichen Ansteckung in der Familie inklusive Arbeitsausfälle usw. einfach ausgeblendet. 


So richtig pervers wird die fehlgeleitete Zielsetzung, wenn uns in der Schweiz vorgemacht wird, wir könnten uns wegen der grossen Kapazitäten und der hohen Qualität im Gesundheitssystem höhere Fallzahlen als andere Länder «leisten», um geringere Schutz-Massnahmen zu rechtfertigen. Diese Überlegung erscheint nur dann plausibel und verhältnismässig, wenn man konsequent ignoriert, was ausserhalb von Spitalmauern mit den Menschen geschieht. 


Das darf uns als Bürgerinnen und Bürgern nicht egal sein, denn es kann jeden von uns persönlich treffen. Es wird die Zukunft unserer Kinder belasten, die Arbeitgeber, die Gesundheitskosten, das Steuersubstrat, den Werkplatz Schweiz, die Sozialversicherungssysteme. 


Deshalb werfe ich die Frage auf: Wie würde die Schweiz politisch handeln, wenn sie den langfristigen Schutz der körperlichen und psychischen Gesundheit sowie den Erhalt der Erwerbsfähigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger zum Ziel hat, statt nur das Gesundheitssystem zu schonen? Daran, also an uns Menschen, sollten wir meiner Meinung nach in Zukunft die Verhältnismässigkeit von Schutz-Massnahmen messen. 


Kolumne von Esther-Mirjam de Boer auf Linkedin vom 11. November 2021.

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