Wir schreiben das Jahr 2028. Vor fünfzig Jahren haben Eltern in der Schweiz das gesetzliche Recht verloren, ihre Kinder zu schlagen. 2021 wurde eine parlamentarische Initiative für ein Gesetz lanciert, das die körperliche Gewalt an Kindern auch innerhalb der Familie noch explizit verbietet. Während der Corona-Krise hatte die häusliche Gewalt erheblich zugenommen. In der angespannten Situation ist vielen Menschen klar geworden, dass der präventive Opferschutz gestärkt werden muss.
In der öffentlichen Debatte wurde der Schutz von Kindern vor elterlicher Gewalt jedoch aufs Heftigste diskutiert. Es kam damals zu skurrilen Äusserungen. Erinnern Sie sich? «Was sie nicht umbringt, macht sie stark», «Nicht jeder Klaps ist eine Katastrophe», auch von «Güterabwägung» war die Rede. Man berief sich auf die Selbstverantwortung der Eltern und wollte die Familie eher vor Staatseingriffen schützen als die Kinder vor häuslicher Gewalt. Das erscheint uns heute im Rückblick unvorstellbar. Doch wir sollten nicht vergessen, wie rasch sich in den vergangenen Jahrzehnten das Selbstverständnis im Rollenbild der Familien gewandelt hat.
Bis 1986 musste eine Ehefrau die Erlaubnis des Ehemannes vorweisen, um einen Arbeitsvertrag unterschreiben zu können. Erst 1988 wurden Mann und Frau in der Ehe gleichgestellt – davor galt sie per Gesetz als seine Gehilfin für den Haushalt. Bis 1992 mussten Frauen gewaltsamen Sex durch ihren Ehemann wehrlos über sich ergehen lassen. Erst danach war Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Dreissig Jahre später wurde die Gewalt an den eigenen Kindern per Gesetz verboten.
Der Durchbruch gelang der Initiative «Gewaltfreie Familie» dank einer Langzeitstudie, in der Hunderte von Kindern während vierzig Jahren beobachtet wurden und die eine starke Korrelation zwischen erfahrener Gewalt und Stressverhalten im Beruf zutage brachte. Darin wurde aufgezeigt, dass Menschen mit Gewalterfahrung später im Beruf weniger leistungsfähig und eher erfolglos sind. Sie neigen dazu, kaltherzig und unausgewogen zu reagieren. Sie kooperieren weniger und fällen dadurch weniger breit abgestützte Entscheide.
Dank repräsentativen Screening-Analysen konnte aufgezeigt werden, dass es einen Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und toxischer Leadership gibt. Diese Erkenntnis hat die Wirtschaftsverbände nach 2021 dazu bewogen, sich für das mental gesunde Aufwachsen von Kindern zu engagieren.
Kolumne von Esther-Mirjam de Boer, erschienen in der Handelszeitung vom 3. Dezember 2020.