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Glauben Sie noch, oder wissen Sie schon?

Esther-Mirjam De Boer

Winterrede auf dem Grossmünsterplatz von Esther-Mirjam de Boer, am 24. Januar 2020.

„Das ist schon speziell, hier zu stehen, ganz im öffentlichen Raum und zu Ihnen zu sprechen. Und es ist irgendwie seltsam, von oben herab eine Rede zu halten, mit der Kirche Zwinglis vor Augen. Es fühlt sich tatsächlich ein wenig wie eine Predigt von der Kanzel an. Allerdings zwingt Sie, liebes Publikum, zum Glück keine Weltanschauung, weder die Moral noch die soziale Kontrolle von Nachbarn oder der Familie dazu, hier zu sein und zuzuhören. Sie sind freiwillig hier. Schön, dass Sie da sind und ich freue mich, wenn Sie bleiben. Ich hoffe, dass sie nachher inspiriert und vielleicht auch etwas aufgerüttelt sind und bei einem Glas Glühwein rege weiterdiskutieren mögen. Hier im öffentlichen Raum. Wissen Sie, ich habe mal an der ETH Architektur studiert und in Stadtplanung diplomiert. Dieser öffentliche Raum hat für mich eine besondere Bedeutung für mich.

Die Stadt ist wie die Allmend des Lebens. Sie ist unser gemeinsamer Lebensraum, den wir teilen und zusammen nutzen. Wenn wir uns alle ausreichend rücksichtsvoll verhalten, tragen wir solidarisch dazu bei, dass unsere Stadt lebenswert ist.

Die Sicherheit und Sauberkeit – die gegenseitige Rücksichtnahme bei allem wohlwollenden Respekt vor der Verschiedenheit, das ist ein wertvolles öffentliches Gut. Unser Zürich gilt als eine der lebenswertesten Städte der Welt. Zu diesem Wert tragen wir durch unser Verhalten solidarisch bei. Und damit sind wir bei einem wichtigen Begriff aus der Verhaltensökonomie, nämlich eben das «öffentliche Gut». Ich möchte anhand von ein paar Beispielen erklären, was das ist und wie es funktioniert.

Ich wette mit Ihnen, wir alle glauben, dass sich Automobilisten in Zentraleuropa im Wesentlichen an die Verkehrsregeln halten und immer auf der rechten Strassenseite fahren, wenn’s drauf ankommt. Wenn wir das nämlich nicht glauben würden, würden wir auf der Landstrasse NIEMALS die erlaubten 80km/Std. schnell fahren. Das wäre viel zu gefährlich. Wir wissen, dass manche schneller fahren und auch mal überholen, doch gleichzeitig vertrauen wir darauf, dass sie dies bei Gegenverkehr nicht tun. Wir glauben ganz fest daran, dass sich alle im richtigen Moment an die Regeln halten. Der sichere und funktionierende Strassenverkehr ist also ein «öffentliches Gut».

Beim öffentlichen Gut geht es um etwas Kollektives, zu dem die Einzelnen einen solidarischen Beitrag leisten, von dem wir in der Gesamtheit schliesslich alle profitieren. Also die Verkehrsregeln einhalten zum Beispiel. Davon hat der Einzelne für sich betrachtet vorerst mal nichts. Aber wir sind als Gemeinschaft gegenseitig voneinander abhängig. Erst im System macht es Sinn, weil wir so alle schneller und sicherer vorwärts kommen. Die Einhaltung von Verkehrsregeln ist ein sehr gefestigtes öffentliches Gut in unserer Gesellschaft und die Kooperationsbereitschaft der Einzelnen ist hoch.

«Öffentliche Güter» sind etwas Kostbares, sie sind die Energiequelle unseres Wohlstandes, unserer sozialen Sicherheit, unserer politischen und wirtschaftlichen Kontinuität. Und sie sichern unser Überleben schlechthin. Die automatische Selbstverständlichkeit, das Grundvertrauen mit dem wir uns auf die vielen öffentlichen Güter verlassen können, schenkt uns individuelle Kapazität für andere Aktivitäten, Innovationen, Beziehungen, Kreativität, Fortschritt und vieles mehr.

«There is no Planet B» sagte Emanuel Macron in seiner Rede vor dem Amerikanischen Kongress 2018. Die Erde ist ganz existenziell unsere gemeinsame Lebensgrundlage. Das Klima ist ein weltumspannendes öffentliches Gut. Wenn wir alle solidarisch unseren Beitrag leisten, dann können wir die menschengemachte Klimaerwärmung stoppen. Aber was hat denn der Einzelne davon, wenn er auf Reisen und Autofahrten verzichtet, weniger Fleisch isst und nur noch Strom aus erneuerbaren Energiequellen nutzt? Nichts bis jetzt, ausser Einschränkungen und Mehrkosten und vielleicht ein gutes Gefühl. Da wird sich mancher sagen: sollen doch die anderen zuerst was tun, bevor ich mich einschränke. Das ist eine typische Reaktion eines sogenannten «Trittbrettfahrers». Auch das ist ein wichtiger Begriff aus der Verhaltensökonomie. Trittbrettfahrer suchen und nutzen zuerst den persönlichen Vorteil. Es sind jene Menschen, die nicht solidarisch zum öffentlichen Gut beitragen, ausser sie profitieren selbst zuerst davon oder sie werden dazu gezwungen. Durch Gesetzte und Bussen zum Beispiel. Oder durch eine Klimasteuer. Trittbrettfahrer wehren sich gegen Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit. Und Trittbrettfahrer sind gefährlich, wenn sie an die Macht kommen und das Ignorieren der öffentlichen Güter zur Politik oder zur Firmenkultur machen. Sie unterhöhlen damit den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und die Solidarität und Integrität in Firmen.

In der Schweiz haben wir eine sehr gut verankerte Tradition von Solidargemeinschaften, die dem allgemeinen Wohl – diesem öffentlichen Gut – dienen. Nehmen wir zum Beispiel die Zusammensetzung unseres Bundesrates. Die Zauberformel. Unser Konkordanzsystem regt die Bundesratsparteien zur gemeinsamen Lösungsfindung an. Dieses im politischen System angelegte Miteinander fördert inkludierendes Entscheidungsverhalten zwischen den verschiedenen politischen Lagern. Das wiederum fördert Kontinuität und Stabilität, wie wir es gerade in der Schweiz gut beobachten können. In Ländern mit nur zwei führenden Parteien, einer ausgeprägten Oppositionspolitik oder einer diktaturähnlichen Übermacht kommt es eher zur Polarisierung, gar zur Spaltung. Das Gegeneinander prägt dann die politische Kultur. Es geht um Abgrenzungen und Ausgrenzungen und andere Formen der Exklusion – der Grenzbildung. Nach dem Motto: Hier sind wir und dort die anderen. Wir wollen es gut haben. Die anderen kümmern uns nicht, solange sie draussen bleiben.

Ich spreche hier also über Inklusion und Exklusion im Kontext von Vielfalt. Sie haben sicher schon lange gedacht: wann kommt sie endlich auf ihr Frauenthema zu sprechen. Gleich, gleich. Das Frauenthema ist nämlich nur ein Symptom für etwas Grundlegenderes: nämlich dem Spannungsfeld zwischen den Polen von vereinendem oder spaltendem Verhalten. Solidarität oder Ausgrenzung. Altruismus oder Egozentrik. Und übrigens: das hat rein gar nichts mit politisch links oder rechts zu tun. Dogmen und Intoleranz gibt es in allen politischen Farben. So auch den netten Gemeinschaftssinn.

Was wir aktuell beobachten können ist, dass uns von Polemikern der Glaube ans öffentliche Gut geraubt wird. Denn was anderes hält Gemeinschaften zusammen? Der Glaube und das Vertrauen, dass ein Solidarsystem funktioniert und die Gemeinschaft kooperiert. Wir glauben an unser offenes Bildungssystem, an die AHV, an die zweite Säule, an die Sicherheit im öffentlichen Raum, an die Arbeitslosenversicherung, an die Sozialhilfe, für den Fall dass alle Stricke reissen – oder die Invalidenversicherung und unser Gesundheitssystem. Wir vertrauen auf die Neutralität unseres Landes sowie auf die Fairness und Angemessenheit des Handelns der Polizei.

Die Strategie der Polemiker ist es jedoch, unseren Glauben und unser Vertrauen zu erschüttern, indem sie zum Beispiel Behauptungen über Regelverstösse aufstellen, Gemeinschaften in gut und schlecht spalten, Misstrauen zu säen und so die Kooperation schwächen. Mancher mag sich fragen, warum sollte das jemand tun? Nun, das Mensch-Sein ist noch voller Geheimnisse.

Was hilft? Die Verhaltensökonomie arbeitet damit, dass sie die verschiedenen Glaubenswolken transparent macht und dadurch Wissen über unsere Annahmen generiert. Wenn wir nämlich wissen, was wir und was andere glauben, dann fangen wir an überlegter zu handeln. Wenn wir im Handeln dann noch verschiedene Möglichkeiten ausprobieren, können wir die Lösung wählen, die nach bestem Wissen und Gewissen funktioniert.

Wenn wir nämlich wissen, was wir und was andere glauben, dann fangen wir an überlegter zu handeln.


Das möchte ich gerne an einem öffentlichen Gut aufzeigen, das weit weniger gefestigt ist, als der Strassenverkehr: die Chancengerechtigkeit für Frauen und Kinder.

Fast 50% der deutschschweizer Männer glauben, dass es Kindern in der frühen Kindheit schade, wenn ihre Mama arbeiten geht. Das ist ein Fakt. Ein Fakt mit schweren Folgen. Etwa 30% der Frauen in der Schweiz glauben das übrigens auch. Auf der anderen Seite nutzen 2/3 der Haushalte mit Kindern familienergänzende Betreuungsangebote und 20% der Mütter arbeiten Vollzeit. Hinzu kommen 15% der jungen Mütter, die ihre Stelle verlieren, die sie gerne behalten hätten. Das ist ein grosses Spannungsfeld.

Ein weiteres Spannungsfeld ist die Frage, ob Kinder eine reine Privatsache der Familien sind. Nun ich denke, dass der Entscheid, ob ein Paar Kinder haben will oder nicht sehr wohl eine reine private Angelegenheit ist. Gleichzeitig sind wir als Gesellschaft existenziell daran interessiert, dass Kinder geboren werden und unter guten Bedingungen aufwachsen können. Weil wir sonst nämlich die Rechnung präsentiert kriegen.

Unser ganzes Vorsorgesystem und der Arbeitsmarkt bauen auf Nachwuchs und Generationensolidarität auf. Das müssen wir uns vor Augen halten. Doch der Mensch hat nicht immer den Durchblick in komplexen Zusammenhängen und handelt oft nicht logisch und faktenbasiert.

Wie verhalten sich nämlich die vielen Menschen in der Schweiz, die glauben, dass eine arbeitende Mutter zum Schaden des Kindes sei? Nun klar: sie setzen sich für Systeme ein, in denen die Mütter in den ersten Jahren zu Hause bleiben. Also gegen Krippenplätze, gegen Mittagstische, gegen Tagesschulen, gegen Vergünstigungen von Tagesstrukturen, gegen Elternzeit, gegen Individualbesteuerung. Ihre Annahmen über richtig und falsch prägen ihr Verhalten zum Beispiel in Abstimmungen und im öffentlichen Diskurs und das wiederum prägt unsere Realität. Das hat weitreichende Folgen für alle Frauen, für den Arbeitsmarkt insgesamt, für Kinder aus bildungsfernen Familien, für Kinder von Alleinerziehenden und für Familien, die auf zwei Erwerbseinkommen angewiesen sind. Auf die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung also.

Das führt dazu, dass 2/3 der noch kinderlosen Frauen annimmt, dass sich die Geburt eines Kindes negativ auf ihre Berufsaussichten auswirkt. Nur 1/3 der Männer fürchtet dies. Lediglich die Hälfte der Frauen glaubt, dass sich eine Familiengründung positiv auf das Lebensglück auswirkt. Bei den Männern sind immerhin 2/3 zuversichtlich. Es gibt also ein erhebliches Wahrnehmungsungleichgewicht. Dieses führt mitunter dazu, dass einerseits über 30% der Akademikerinnen kinderlos bleiben und anderseits Mütter, die aus dem Erwerbsleben aussteigen, im Schnitt erst NEUN Jahre nach der Familiengründung in den Arbeitsmarkt zurückkehren und das allzuoft in Miniteilzeit-Pensen unter 50%. Das hat fatale Folgen auf ihre finanzielle Unabhängigkeit und Rentenberechtigung, sollte die Ehe nicht halten. Und Sie wissen: 50% der Ehen werden geschieden.

Die weit verbreitete Annahme, dass das beste Familienmodell jenes ist, in dem die Frau die Kinder zu Hause grosszieht und den Haushalt führt, beschert uns ein Steuersystem, das ein zweites Einkommen voll der Progression aussetzt. Die ebenso verbreitete Annahme, dass Kinder reine Privatsache seien, bürdet den meisten Eltern die vollen Kosten einer Fremdbetreuung auf, was in Summe dazu führt, dass Frauen entweder ihr ganzes Einkommen an Krippen und Steuern abliefern, oder eben zu Hause bleiben. Das ist die Realität für jene die die Wahl haben.

Viele Familien sind jedoch fürs Überleben auf beide Einkommen angewiesen und andere Frauen sind einfach nicht für einen 100% Mami & Haushalt-Job gemacht und gehen zum Schutz ihrer Familie, ihrer Beziehung und der eigenen Gesundheit besser einer Erwerbstätigkeit nach. So wie ich. Ich kann meine Tochter eindeutig besser lieben und umsorgen, wenn ich noch andere Aufgaben im Leben habe.

Eine international verbreitete Folge der beschriebenen Grundannahmen in der Gesellschaft ist, dass Frauen nach der Geburt des ersten Kindes schwupps wesentlich weniger verdienen und Männer ihr Pensum mit der Familiengründung aufstocken – hier in Zentraleuropa ist das besonders ausgeprägt und mit langfristigen Folgen, die man «Mutterschaftsstrafe» nennt. Die Familienpolitik der Skandinavischen Länder zeigt, dass die langfristigen Folgen dort weniger als halb so gross sind und in Norwegen selbst der Anfangseffekt weit geringer ausfällt.

In unserem Arbeitsmarkt werden in den nächsten 10 Jahren über eine halbe Million Arbeitskräfte fehlen. Junge Frauen in der Schweiz verfügen bereits über ein etwas höheres Bildungsniveau als die jungen Männer. Diese Frauen, die im heutigen System nach einer Familiengründung nicht oder mit tiefem Arbeitspensum erwerbstätig sind, sollten die Lücke füllen helfen. Dafür brauchen wir Strukturen und Anreizsysteme, dass sie das auch tun und von den Vätern ihrer Kinder darin unterstützt werden.

Wir wissen aus der Forschung, dass dafür drei Grundpfeiler in der Gesellschaft erforderlich sind:

1. Flächendeckende, bezahlbare und qualitativ hochwertige Tagesstrukturen für Kinder von 0-15 Jahren – auch während der Schulferien.
2. Die progressive Individualbesteuerung unabhängig vom Zivilstand.
3. Gleich lange und unübertragbare Elternzeit für beide Elternteile.

Darüber hinaus hilft alles, was dem Grundsatz der „Politik der gleich langen Spiesse“ folgt und Ungleichbehandlung eliminiert.

Die Entwicklungsforschung in verschiedensten Ländern zeigt, dass Kinder, die sich in den ersten fünf Lebensjahren vor Eintritt in den Kindergarten, die Landessprache aneignen können, die die Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens im Wohnland kennenlernen dürfen, die sich kreativ ausprobieren können und emotional in Sicherheit aufgewachsen sind (und dazu gehört genügend Einkommen) – diese Kinder haben es später wesentlich leichter als jene, bei denen die Zeichen am Anfang weniger günstig standen. Kinder, die mit einem Erfahrungsdefizit in den Kindergarten eintreten, werden diese Belastung in der Regel bis ins Erwachsenenalter nicht mehr los und belasten unser Solidarsystem.

Günstige Bedingungen in der frühen Kindheit bedeuten später ein gesundheitlich, sozial und ökonomisch stabileres Leben. Davon profitiert einerseits das Individuum und anderseits die Gesellschaft als Ganzes. Und zwar mit weniger Kriminalität, weniger Arbeitslosigkeit, weniger Gewalt und weniger Suchtmittelmissbrauch. Der bekannte Schweizer Ökonom Prof. Dr. Ernst Fehr von der Universität Zürich hat berechnet, dass jeder gut in die frühe Kindheit investierte Franken sich später doppelt bis achtfach ausbezahlt. Für die Schweiz hat er errechnet, dass wir auf eine Anhebung des Bruttoinlandproduktes um rund 1 Milliarde Franken pro Jahr zählen dürfen, wenn wir alle Kinder in den ersten Lebensjahren optimal unterstützen.

Für die Chancengerechtigkeit der Kinder ist die Lobby leider weniger stark, als für den sicheren und funktionierenden Strassenverkehr. Lassen Sie das mal bitte einwirken.

Meine Einladung zum Abschluss meiner Rede ist folgende: bitte interessieren Sie sich für Fakten, für die Wissenschaft, für die Experimente, die Thesen testen und glauben Sie nicht einfach was sie so hören oder online lesen. Wissen erfordert keine formale Ausbildung. Wissen kann jeder. Wissen wird heute genährt vom Hunger an das Richtige zu glauben und das Richtige zu tun. Im Sinne des Ganzen.
Vielen Dank.“

Dieser Artikel wurde von Esther-Mirjam de Boer verfasst.

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