Liebe ETH, rede Klartext
Liebe ETH, meine Alma Mater, bitte sag uns die Wahrheit. Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Du hast im September einen Professor bis auf weiteres suspendiert und ein Disziplinarverfahren eingeleitet, weil er mehrfach Studentinnen sexuell belästigt habe – das war längst ein offenes Geheimnis. Rede Klarxtext.
Du gibst intern zu, dass es in der Vergangenheit gravierendere Fälle gab, die aber still und klammheimlich «gelöst» wurden. Bitte, gib dem Problem «Machtmissbrauch» in deinen heiligen Hallen endlich Namen, Gesichter und Stimmen, damit es aufhört, als Phantom die Kultur zu verpesten und Generationen von Studierenden in ihrer Integrität und ihren Karriereaussichten zu schädigen, und damit es aufhört, als Decke des Schweigens weiteren Problemfällen Schutz zu bieten. Rede Klartext, bitte, und zieh die Konsequenzen.
«Die ETH muss mehr tun gegen Diskriminierung.»
Ich habe an der Architekturabteilung studiert und erlebt, wie die Grenzen des Anstandes von Professoren überschritten wurden und das Machtgefälle missbraucht wurde – ja, und es waren auch Männer betroffen. Ich hörte Sätze wie «Sie sind eine Frau, warum studieren Sie Architektur?» und «Sie sind zu selbstbewusst für eine bessere Note», als ich nach dem Grund für die in meinen Augen ungerechtfertigt tiefe Note fragte. Ich habe Kolleginnen, die nackte Haut auch unter der Gürtellinie aufgedrängt erhielten, nicht nur – wie im aktuellen Fall, über den die WOZ berichtete – oben ohne.
Der Dekan am Departement Architektur will diskriminierendes Verhalten an der ETH nicht dulden. Gut so. Aber wie merken wir das, wenn es wiederholt stattfindet und Sanktionen – etwa «Frühpensionierung» … – geheim bleiben? Das ist die falsche Message! Das gehört umgedreht.
Warum wollen Betroffene anonym bleiben? «Dein Professor oder die Assistierenden, die dich früher unterrichtet haben, sind heute deine Arbeitgeber oder sitzen in der Jury deines nächsten Wettbewerbs», so der Tenor – die Architekturwelt ist klein und die Angst geht um, dass eine Anklage die eigene Karriere zerstört. Doch nicht die Opfer sollten die Konsequenzen tragen müssen, sondern jene, die ihre Macht missbrauchen. Oder? Liebe ETH, tu was, jetzt, öffentlich und konsequent – für deine zukünftigen Studierenden und Mitarbeitenden. Danke!
Kolumne in der Handelszeitung vom 25. Oktober 2018 von Esther-Mirjam de Boer